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Vorüberlegungen

Hier finden Sie wichtige Denkanstöße für Ihre Vorbereitung für die Antisemitismusprävention.

Bevor Sie mit der Arbeit gegen Antisemitismus beginnen, wollen wir Sie mit unserem Ansatz in Bezug auf die pädagogische Arbeit gegen Antisemitismus vertraut machen. Hier finden Sie einige Fragen, die Sie sich stellen sollten, um Ihre eigene Haltung zu reflektieren und passende Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln.

Antisemitismus als gesamtgesellschaftliches Problem wahrnehmen

Eine aktuelle Studie des Jüdischen Weltkongresses zeigt, dass jede*r vierte Deutsche antisemitische Ansichten vertritt (World Jewish Congress 2019). Die Forschung zeigt dabei auf, dass Antisemitismus kein „spezifisches Problem einiger Subgruppen“ (Zick et al 2019, S. 103) ist und es sich somit um ein „gesamtgesellschaftliches Phänomen“ (Decker und Brähler 2018, S. 201) handelt. Demnach ist es also falsch, Antisemitismus allein bestimmten gesellschaftlichen Gruppen wie Menschen muslimischen Glaubens zuzuschreiben oder als ein Problem des rechtsextremen Spektrums kleinzureden.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die problematische Historisierung von Antisemitismus. So ist es falsch, Antisemitismus allein als Symptom der Zeit des Nationalsozialismus zu begreifen. Zum einen hat Antisemitismus eine viel längere Geschichte als der Nationalsozialismus und zum anderen tritt Antisemitismus auch heute noch in verschiedenen Formen auf (ausführliche Informationen zu diesen Formen finden Sie in unserem Hintergrundtext Antisemitismus).

Antisemitische Ressentiments manifestieren sich in antisemitischen Übergriffen, die auch zum schulischen Alltag gehören. So belegen die Ergebnisse der Studie „Mach mal keine Judenaktion“, dass „jüdische Schüler*innen im Schulalltag mit Antisemitismus in verschiedenen Erscheinungs- und Ausdrucksformen konfrontiert sind“ (Bernstein et al 2018, S. 333).

Diese Verbreitung in Einstellung und tatsächlichen Übergriffen macht deutlich, dass Antisemitismus als ein gesamtgesellschaftliches Problem wahrzunehmen ist.

Antisemitismus als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrnehmen

Antisemitismus als ein gesamtgesellschaftliches Problem anzuerkennen, bedeutet auch, die Arbeit gegen Antisemitismus als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrzunehmen und anzugehen. Antisemitismus muss als ein Problem für, aber nicht der Jüdinnen und Juden anerkannt werden. Wir alle sind gefragt, wenn es um ein gutes gemeinsames Leben auf der Basis von Demokratie und Menschenrechten geht. Aktiv zu werden gegen Antisemitismus ist eine Aufgabe aller, da „antisemitische Äußerungen oder Handlungen Menschenrechtsverletzungen sind, die die ge-samte Zivilgesellschaft angreifen“ (Ensinger 2013, S. 12).

Antisemitismus hat keinerlei Zusammenhang mit dem Verhalten von Jüdinnen und Juden. So kann auch Begegnung mit Jüdinnen und Juden als alleinige Antisemitismusprävention keinesfalls ausreichen und birgt besonders als Interventionsmaßnahme Gefahren in sich. Vor der Initiierung von Begegnungsprojekten sollte deshalb eine kritische Auseinandersetzung mit deren Chancen und Risiken erfolgen (weitere Informationen hierzu finden Sie bei Anders Denken o.J.).

Die Perspektive und Expertise jüdischer Menschen bei der Beschäftigung mit Antisemitismus und deren Auswirkungen einzubeziehen, ist hingegen sehr relevant. Nur wenn Jüdinnen und Juden als Expert*innen und Referent*innen für die Arbeit gegen Antisemitismus (persönlich, durch Videos, Texte, Ergebnissen aus Studien etc.) zu Wort kommen, können sie für sich selbst sprechen und werden nicht länger als „Opfer“ (von Antisemitismus) wahrgenommen.

Ein zentrales Ziel dieses Methodenkoffers besteht darin, durch die Bereitstellung von Hintergrundwissen, Methoden und weiterführenden Kontakten konkrete Möglichkeiten für die Arbeit gegen Antisemitismus aufzuzeigen und so die Annahme dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe zu erleichtern. So soll trotz der vielen Anforderungen an Lehrer*innen bzw. Pädagog*innen eine qualitativ hochwertige Arbeit gegen Antisemitismus ermöglicht werden.

Eigene Verwobenheit reflektieren

Die Arbeit gegen Antisemitismus bedeutet nicht allein eine Wissensvermittlung, sondern sollte auch die Auseinandersetzung mit eigener Verwobenheit beinhalten. So ist es wichtig, die Reflexion über das Involviert-Sein in antisemitische Denk- und Handlungsmuster nicht nur bei den Schüler*innen bzw. Teilnehmer*innen anzuregen, sondern zunächst bei sich selbst anzufangen: Inwiefern bin auch ich als Lehrer*in bzw. Pädagog*in nicht frei von diesen Bildern? Erst wenn diese Grundlage geschaffen ist und die kritische Selbstreflexion – gegen die dabei entstehenden Widerstände – stetig weitergeführt und bei der pädagogischen Arbeit transparent gemacht wird, kann diese Auseinandersetzung auch bei den Schüler*innen bzw. Teilnehmer*innen auf frucht-baren Boden fallen, ohne moralisierend zu wirken.

Folgende Fragen können dabei hilfreich sein: „Warum reagiere ich auf bestimmte Äußerungen zu dem Thema besonders heftig? Welche Rolle spielt für mich die nationalsozialistische Vergangenheit – auch familiengeschichtlich?“ (Brühl 2014, S. 13)

  • Brühl, Christian (2014): Grundlegung: Schulische und außerschulische Bildungsarbeit über und gegen Antisemitismus. In: Brühl, Christian; Meier, Marcus (Hrsg.): Antisemitis-mus als Problem der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit. Pädagogische und didaktische Handreichungen für Multiplikatoren und Multiplikatorinnen. 3. Auflage. Köln: Verlag NS-Dokumentationszentrum, S. 12-19.

Zum Weiterlesen

  • Bernstein, Julia; Diddens, Florian; Theiss, Ricarda; Friedlender, Nathalie (2018): „Mach mal keine Judenaktion!“ Herausforderungen und Lösungsansätze in der professionellen Bildungs- und Sozialarbeit gegen Antisemitismus. Im Rahmen des Programms „Forschung für die Praxis“ (Frankfurt University of Applied Sciences). Online verfügbar unter http://www.frankfurt-university.de/antisemitismus-schule, zuletzt geprüft am 25.11.2019.
  • Fava, Rosa (o.J.): Israelbezogener Antisemitismus unter Lehrenden. Nahostkonflikt und Antisemitismus im Unterricht. Online verfügbar unter https://www.anders-denken.info/informieren/nahostkonflikt-und-antisemitismus-im-unterricht, zuletzt geprüft am 27.11.2019.
  • KIgA e.V.(Hg.) (2017): Widerspruchstoleranz 2. Ein Methodenhandbuch zu antisemitis-muskritischer Bildungsarbeit
Umgang mit Diskriminierungserfahrungen

Bei der Planung und Umsetzung von Bildungsangeboten sollte immer davon ausgegangen werden, dass Menschen im Raum sein können, die direkt von Diskriminierung betroffen sind. Dies gilt auch für Antisemitismus: Oft ist gar nicht bekannt, dass Menschen im Raum sind, die sich als jüdisch identifizieren. Diese sollten keinesfalls dazu genötigt werden, dies offenzulegen, aber ihre eventuelle Anwesenheit sollte stets mitgedacht werden und ihr Schutz Priorität haben (Ensinger 2013, S. 12).

Keine Person sollte dazu aufgefordert werden, von eigenen Diskriminierungserfahrungen zu erzählen. Da dies aber auf freiwilliger Basis durchaus geschehen kann, sollten die Lehrer*innen bzw. Pädagog*innen sich in der Lage fühlen, darauf zu reagieren bzw. Erfahrungen im Umgang mit Diskriminierungserfahrungen haben. Sollte dies nicht der Fall sein, empfehlen wir externe Bildungsangebote einzubeziehen bzw. sich durch Fortbildungen in diesem Bereich weiterzubilden.

Außerdem sollte es während der einzelnen Übungen als Stärke angesehen und kommuniziert werden, wenn Teilnehmer*innen eigene Grenzen setzen. Deswegen sollte bereits zu Beginn der Übungen klargemacht werden, dass alle so weit gehen, wie sie wollen bzw. können. Jede*r hat also das Recht, aus der Übung auszusteigen (dafür muss es auch die Möglichkeit einer Begleitung, also mindestens zwei Teamer*innen geben), und die Übung kann unterbrochen werden. Dies gilt vor allem für Übungen, wo Mythen oder Vorurteile für eine anschließende Dekonstruktion reproduziert werden – was im Vorhinein angekündigt werden sollte.

Nicht zuletzt können Teilnehmer*innen von unterschiedlichen Diskriminierungsformen betroffen sein (Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, …). Es sollte darauf geachtet werden, keine Gleichsetzungen, aber auch keine Hierarchien unterschiedlicher Diskriminierungsformen vorzunehmen. Trotz aller Unterschiedlichkeiten sollte die individuelle Verletzung im Vordergrund stehen und als solche ernst genommen werden. So kann hier auf der Basis der Wertschätzung aller Menschen und der Anerkennung der grundlegenden (Menschen-)Rechte argumentiert und gehandelt werden.

Eine klare Haltung entwickeln und zeigen (ist erlaubt und gewünscht)

Immer wieder gibt es Unsicherheiten, inwiefern Lehrer*innen bzw. Pädagog*innen in pädagogischen Zusammenhängen Stellung beziehen dürfen. Gerade wenn es aber um die Thematisierung demokratiefeindlicher Äußerungen und Handlungen geht, ist eine Auseinandersetzung und eine klare Haltung geradezu verpflichtend: „Das Grundgesetz und das Schulgesetz verpflichten Lehrkräfte dazu, die Menschenwürde und die Gleichberechtigung aller Menschen einzuhalten und zu lehren und die Verletzung dieser Rechte zu thematisieren. Dabei sind sie ausdrücklich nicht zur Neutralität verpflichtet“ (Schäfer 2018).

In diesem Zusammenhang ist der im Jahr 1976 formulierte „Beutelsbacher Konsens“ für die politische Bildung in und außerhalb der Schule handlungsleitend, der keinesfalls im Widerspruch dazu steht. Dieser besagt unter anderem, dass Schüler*innen Meinungen nicht aufgezwungen werden dürfen (Überwältigungsverbot) und bei kontroversen Themen verschiedene Ansichten und Meinungen zugelassen und diskutiert werden müssen (Kontroversitätsgebot). Aufschlussreich kann auch die Auseinandersetzung mit der von einem Netzwerk aus Wissenschaftler*innen und politischen Bildner*innen im Jahr 2015 veröffentlichten neue Erklärung sein, der so genannten „Frankfurter Erklärung – Für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung“. Sie wollen mit den entwickelten Thesen dazu anregen „vor dem Hintergrund aktueller Krisen und gesellschaftlicher Umbrüche neu über fachdidaktische Prinzipien nachzudenken“ (Die Frankfurter Erklärung ist online verfügbar unter https://akg-online.org/sites/default/files/frankfurter_erklaerung.pdf)

Das Ziel der Intervention im Auge behalten

Da jede Aussage und auch jede Situation sehr unterschiedlich sind, ist es schwierig eine pauschale Antwort darauf zu geben, wie mit problematischen Äußerungen oder Handlungen umgegangen werden soll. Zunächst ist es wichtig, sich diese Frage – allein und im Team – schon im Vorfeld einer Projektwoche bzw. eines Workshops zu stellen und mögliche Vorgehensweisen zu kennen bzw. im Idealfall einzuüben (hierfür kann der Besuch von Argumentations- und Handlungstrainings hilfreich sein).

Grundlegend sollte jede als problematisch empfundene Aussage thematisiert werden. Wie dies geschieht, ist vom Ziel der Intervention abhängig. So kann es beispielsweise darum gehen, eine Aussage zu unterbinden bzw. Grenzen zu setzen, Position zu beziehen oder eine Diskussion anzuregen. Der Fokus sollte dabei nicht auf der Entlarvung, sondern auf dem Schutz und der Solidarisierung mit den Betroffenen liegen. Bei strafrechtlich relevanten Taten oder Äußerungen gilt es, diese anzuzeigen. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang die Handreichung für Düsseldorfer Schulleitungen und Lehrkräfte „Was tun bei Antisemitismus an Schulen?“ (online verfügbar https://880e17f2-0822-4f55-9c21-195ae45cb1c8.filesusr.com/ugd/cd7ea2_86a4645a7d6c42f0bb8545ffb6e242ef.pdf ) Argumentationshilfen zur Entkräftigung von Vorurteilen finden Sie online unter: http://nichts-gegen-juden.de/ sowie https://www.stopantisemitismus.de/.

Darüber hinaus sollten interventive und präventive Maßnahmen nicht gleichgesetzt werden. Ziel dieses Methodenkoffers ist es, eine (längerfristige) präventive Arbeit anzuregen. Sollen konkrete Vorfälle bearbeitet werden oder mit Teilnehmer*innen mit einem gefestigten antisemitischen Weltbild gearbeitet werden, sind hier (zusätzlich) andere Maßnahmen nötig. Auch hier gilt es, sich kompetente Unterstützung wie darauf spezialisierte Beratungsstellen ins Boot zu holen (z.B. SABRA: https://www.sabra-jgd.de/, OFEK: https://zwst-kompetenzzentrum.de/ofek/, https://stopantisemitism.de)

Zum Weiterlesen

Widerstände zum Thema machen

Wenn es schon bei der Einführung des Themas Antisemitismus bei den Teilnehmer*innen bzw. Schüler*innen zu Widerständen kommen sollte, kann es hilfreich sein, genau dies zu thematisieren und somit als Einstieg in das Thema zu nutzen. So kann die Diskussion über die Bearbeitung des Themas in der Schule zeigen, dass nicht ein generelles Desinteresse das Problem ist, sondern Vermittlungsmethoden im Mittelpunkt der Kritik stehen (Brühl 2014, S. 15). Das Nutzen von Freiräumen wie Projektwochen, die Auseinandersetzung in Zusammenhang mit Exkursionen oder durch externe Referent*innen kann dabei helfen, „alte Muster“ aufzubrechen. Gerade der Einbezug der Meinung der Schüler*innen bzw. Teilnehmer*innen kann nicht nur für die praktische Arbeit hilfreich sein, sondern die Bereitschaft und Motivation fördern, sich auf das Thema einzulassen. Diese Bereitschaft ist wichtig, da sie die Grundlage für eine kritische Auseinandersetzung bildet (Ensinger 2013, S. 26).

Grund für den Widerstand kann aber auch ein Abwehrmechanismus sein. In diesem Fall sollte eine inhaltliche statt methodenfokussierte Diskussion und Bearbeitung angeregt werden. Dabei ist die Thematisierung der falschen Historisierung von Antisemitismus angebracht: Antisemitismus wird keineswegs „schon wieder“ thematisiert, da Antisemitismus nicht allein mit der Zeit des Nationalsozialismus zu tun hat. Sowohl zuvor als auch in der heutigen Zeit tritt Antisemitismus auf unterschiedliche Art und Weise zutage – und das nicht ausschließlich mit Bezug zum Nationalsozialismus (ausführliche Informationen zum Sekundären Antisemitismus finden Sie in unserem Hintergrundtext Antisemitismus).

  • Brühl, Christian (2014): Grundlegung: Schulische und außerschulische Bildungsarbeit über und gegen Antisemitismus. In: Brühl, Christian; Meier, Marcus (Hrsg.): Antisemitis-mus als Problem der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit. Pädagogische und didaktische Handreichungen für Multiplikatoren und Multiplikatorinnen. 3. Auflage. Köln: Verlag NS-Dokumentationszentrum, S. 12-19.
  • Ensinger, Tami (2013): Analyse von antisemitischen Bildern und Stereotypen. In: Bil-dungsstätte Anne Frank (Hrsg.): Weltbild Antisemitismus. Didaktische und methodische Empfehlungen für die pädagogische Arbeit in der Migrationsgesellschaft. Frankfurt am Main: BS Anne Frank. Online verfügbar unter https://www.bs-anne-frank.de/fileadmin/user_upload/Slider/Publikationen/Broschuere_Weltbild_Antisemitismus.pdf, zuletzt geprüft am 27.11.2019, S. 26f.