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Was ist Antisemitismus?

Antisemitismus zu verstehen und zu erkennen, ist eine wichtige Basis, um gegen Antisemitismus aktiv werden zu können.



Die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) hat eine Arbeitsdefinition Antisemitismus verabschiedet, die 2017 auch von der deutschen Bundesregierung angenommen wurde. Sie lautet: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen." 1 Darüber hinaus können sich diese Angriffe auch gegen den Staat Israel richten, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird. Diese Arbeitsdefinition soll als eine Richtschnur z.B. bei Straftaten oder in Bildung und Schule gelten. Sie ist allerdings rechtlich nicht bindend.

Der Begriff Antisemitismus beschreibt also die Ablehnung gegenüber bzw. den Hass auf Jüdinnen und Juden. Heute umfasst er dabei viele verschiedene Formen der Judenfeindschaft. Für Jüdinnen und Juden fängt Antisemitismus bereits mit Stereotypen, Respektlosigkeit und Ignoranz gegenüber Jüdinnen und Juden an. 2 Eine häufige Annahme ist, dass Antisemitismus allein ein religionsfeindliches Vorurteil sei. Dies basiert auf der falschen Annahme, dass das Judentum allein eine Religion sei (Weitere Informationen finden Sie hier). Antisemitismus ist eine anti-moderne, antidemokratische und in seiner Form einzigartige Weltanschauung. Er basiert nicht auf dem Judentum und seiner Geschichte, sondern auf Vorstellungen über „die Juden“.


„Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden.“
Theodor W. Adorno

Kernpunkt ist, dass „die Juden“ als eine mächtige Gruppe gelten, die Schuld an allem Schlechten in der Welt seien. „Die Juden“ sollen sich zur Erlangung der Weltherrschaft verschworen haben und gelten als eine geheime Gruppe, die im Dunkeln agiert und die Fäden zieht. Entscheidend für diese Zuschreibung ist nicht ihre jüdische Religion, sondern ihre ethnische Zuschreibung zum Judentum. Die Ideologie einer jüdischen Weltverschwörung ist sehr flexibel. Sie bietet ein Erklärungsmodell, das auf alle Problemlagen anwendbar ist und so im Laufe der Zeit unterschiedlich in Erscheinung getreten ist. Der Antisemitismus bezieht seine Anziehungskraft also aus seiner hohen Anpassungsfähigkeit und der langen Kontinuität des antisemitischen Wissens, das auf gesellschaftlich-kultureller Ebene verankert ist.

Der Begriff „Antisemitismus“ stammt aus dem 19. Jahrhundert und wird zumeist auf den Journalisten Wilhelm Marr zurückgeführt, der selbst ein überzeugter Antisemit war. Marr definierte Antisemitismus 1879/80 als eine angeblich neuartige, rassistisch motivierte Judenfeindschaft, die er ausdrücklich vom religiös begründeten Antijudaismus unterschieden wissen wollte. 3 Es war der Versuch einer Verwissenschaftlichung der Judenfeindlichkeit, da nach der Aufklärung die Bedeutung der Religion sank und die damit verbundene Ablehnung der Jüdinnen und Juden aus religiösen Gründen so nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Der Begriff setzt sich aus den Teilen „anti“ (gegen) und „Semiten“ zusammen. In der deutschen Sprachwissenschaft und Völkerkunde waren alle ehemaligen und aktuellen Bewohner*innen des Nahen Ostens „Semiten“. Dennoch sind mit Antisemitismus ausschließlich judenfeindliche Einstellungen und Handlungen gemeint. 4 Zeitgemäß stand dieser Begriff eng im Zusammenhang mit dem Begriff der „Rasse“. Nun wurden „die Juden“ als eigene „Rasse“ betrachtet, und diese als minderwertig bezeichnet. Diese Rassifizierung des Judenhasses war neu und ist das entscheidende Merkmal für den modernen Antisemitismus seit dem 19. Jahrhundert.

Wichtig ist, dass dieses antisemitische Weltbild keiner speziellen Gruppe zugeordnet werden kann. Antisemitismus ist die Basis von rechtsextremer und nationalsozialistischer Ideologie, doch er kann nicht allein in die rechte Ecke verwiesen werden. Antisemitismus ist auch in der politischen Linken sowie der sogenannten Mitte der Gesellschaft virulent, er findet sich unter Christ*innen und es gibt den Antisemitismus islamisierter Prägung. Zugleich wird er als vermeintlich vergangenes Phänomen historisiert und tabuisiert und nicht als aktuelles Problem erkannt. Antisemitismus sei ein Problem aus dem Nationalsozialismus, heißt es häufig, und dürfte doch heute gar nicht mehr bestehen. Dem widersprechen die Erfahrungen der Jüdinnen und Juden in Deutschland, die erst seit kurzem überhaupt zu ihrer Perspektive auf Antisemitismus befragt werden: 41% der Befragten, das heißt mehr als ein Drittel, gaben an in den letzten 12 Monaten von antisemitischer Belästigung betroffen gewesen zu sein. 5 In einer weiteren Studie verzichtet die überwiegende Mehrheit, nämlich 70% der Befragten, darauf, sich aufgrund erwarteter Gefahren als jüdisch erkennbar zu zeigen, und 58% der Befragten vermeiden aus Sicherheitsgründen bestimmte Orte bzw. Stadtteile. 6 In Schulen geben sich jüdische Schüler*innen oft nicht zu erkennen oder sind zum Teil massiven antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt.

Rassismus und Antisemitismus: Eine wichtige Unterscheidung.

Antisemitismus wird häufig in einem Atemzug mit bzw. als eine spezifische Form von Rassismus genannt. Tatsächlich gibt es einige Gemeinsamkeiten, aber auch entscheidende Unterschiede zwischen Antisemitismus und Rassismus. Die häufig vertretene Ansicht, dass Antisemitismus eine Form von Rassismus, also eine Art antijüdischer Rassismus sei, verkennt, dass sowohl die Funktionsweise, als auch die gegebenen Denkmuster hinter den beiden Konzepten verschiedene sind.

Die Besonderheit des Antisemitismus liegt darin, dass Antisemit*innen „den Juden“ bestimmte Eigenschaften zuschreiben, die anderen Gruppen nicht zugeschrieben werden würden. Zwar gelten „die Juden“ als „minderwertig“, aber sie werden häufig als mächtig, intelligent und besonders reich dargestellt. „Den Juden“ als Drahtzieher werden alle gesellschaftlichen Fehlleistungen angelastet, unter denen die Antisemit*innen zu leiden hätten; Antisemitismus ist die Welterklärung, mit der sie sich von ihren eigenen Problemen als unschuldig entlasten. „Die Juden“ seien eine abstrakte Macht im Weltgefüge, sie zögen im Hintergrund die Fäden und benützten andere zu ihrem eigenen Vorteil. Diese fixe Idee einer „jüdischen Weltverschwörung“ ist einzigartig: Über keine andere ethnisch oder religiös konstruierte Gruppe existieren vergleichbare Vorstellungen. 7 Auch spezifische Formen von Antisemitismus wie israelbezogener und sekundärer Antisemitismus variieren und kodieren diese Vorstellungen.

Der Rassismus funktioniert anders: Die von Rassismus betroffenen Personen werden beispielsweise mit Primitivität verbunden, mit Aggression und Sexualität. Aus dieser herabsetzenden Anschauung resultiert die Rechtfertigung für deren Ausbeutung; die Rassistin bzw. der Rassist erklärt sich für höherwertig. Beim Rassismus wird eine etwaige zugeschriebene Macht, sei es in Form der Arbeitskraft oder der sexuellen Potenz, durch Rückgriff auf das Biologische formuliert. Beim Antisemitismus bleibt die Macht hingegen unkonkret und abstrakt. Während beim Rassismus also der Unterwertigkeitsgedanke im Vordergrund steht, wird im Antisemitismus das Übermächtige imaginiert.

Gemeinsam ist diesen Diskriminierungsformen, dass sie nicht erst mit Hass beginnen, sondern mit negativ behafteten Kategorisierungen, Pauschalisierungen, Stereotypen, Vorurteilen und bestimmten Weltanschauungen, Skepsis und Vorsicht, emotionaler Abneigung, einer unterschwelligen Abwertung und einer unreflektierten Nutzung alltagssprachlicher Schmähungen. 8 Außerdem ist beiden Diskriminierungsformen gemeinsam, dass die Diskriminierung von der gesellschaftlich durchsetzungsmächtigen Gruppe ausgeht. Zugleich trifft die mit Gewalt durchgesetzte Stigmatisierung als „minderwertige Rasse“ die Betroffenen in ihrem Menschsein. Doch die Konsequenzen aus diesen Ansichten unterscheiden sich: Da „der Jude“ für alles Böse und Schlechte steht, ist für ihn kein Platz in der Gesellschaft. Antisemitismus zielt ideologisch auf die Vernichtung aller Jüdinnen und Juden ab, die unterschwellige Botschaft in jeder Form des Antisemitismus ist, dass „die Welt ohne Juden schöner wäre“. 9 Der Rassismus dagegen strebt eine von rechts so genannte „ethnopluralistische“ Teilung der Welt an, die nach seinen Vorstellungen kategorisiert und geordnet sein soll. 10 Der*die Rassifizierte im Rassismus findet noch Verwendung, selbst in der Versklavung oder in der wirtschaftlichen Ausbeutung erfüllen sie einen Zweck. 11 Für „die Juden“ ist in der antisemitischen Weltordnung dagegen kein Platz. 12

Dazu kommt die Jahrtausende alte Tradition des Judenhasses, die bis in die Antike zurückreicht. Moishe Postone stellt dabei fest, dass der moderne Antisemitismus mit dem tragischen Höhepunkt der industriell durchgeführten Massenvernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden so lange unerklärlich bleiben musste, „wie der Antisemitismus als bloßes Beispiel für Vorurteile, Fremdenhass und Rassismus allgemein behandelt wird, als Beispiel für Sündenbock-Strategien, deren Opfer auch sehr gut Mitglieder irgendeiner anderen Gruppe hätten gewesen sein können.“ 13 Zwar weist auch der Rassismus eine historische Kontinuität auf. Eine beliebige Ersetzung der Jüdinnen und Juden als Hassobjekt durch eine andere Gruppe ist durch die Fixierung auf die antisemitischen Vorstellungen über „die Juden“ und das vermeintlich „Jüdische“ ausgeschlossen. Der Rassismus hingegen ist eine vergleichsweise neue Ideologie, die nicht auf die Vernichtung aller people of colour abzielt. Somit ist die Shoah kein Ergebnis von „reinem Rassismus“.

In der Forschung gibt es sehr viele verschiedene Unterscheidungen der antisemitischen Spielarten, die in der Praxis jedoch ineinander übergehen können. „Antisemitismus“ hat sich als der Oberbegriff für viele Formen der Judenfeindschaft durchgesetzt und wird durch weitere Beifügungen spezifiziert. Wir unterscheiden in vier Kategorien:

1. Antijudaismus

Der Antijudaismus ist die religiös motivierte und begründete Ablehnung von Jüdinnen und Juden.

Vor zweitausend Jahren nahm die christliche Religion ihren Ursprung im Judentum. Schon kurz darauf folgte die Trennung zwischen beiden Religionen, die von der kirchlichen Judenfeindlichkeit begleitet wurde. Die Wurzel des religiös begründeten Judenhasses liegt somit in der Abgrenzung des neugegründeten Christentums vom Judentum. „Den Juden“ wurde vorgeworfen, den Bund mit Gott gebrochen und seinen Sohn, den von ihnen nicht anerkannten Messias, getötet zu haben, statt dies den eigentlichen Verantwortlichen, den Römern, anzulasten. An die Stelle des Judentums trete nun das Christentum. Vielfach wird die Vorstellung der Jüdinnen und Juden als Christusmörder tradiert und als eine Kollektivschuld auf alle Jüdinnen und Juden angewendet. So entwickelte sich im Mittelalter u.a. der Mythos der Ritualmorde an christlichen Kindern. Diese Mythen bleiben zum Teil bis heute bestehen und werden auch in anderen Kontexten wie zum Beispiel der Parole „Kindermörder Israel“ im heutigen israelisch-palästinensischen Konflikt aufgegriffen. Dem Antijudaismus konnten Jüdinnen und Juden theoretisch entgehen, indem sie konvertierten, und so geschah es auch in dunklen Zeiten der jüdischen Geschichte.

Es gibt auch einen islamischen Antijudaismus, der sich auf die politischen und theologischen Auseinandersetzungen Mohammeds mit den jüdischen Stämmen in Medina begründet. Nach seiner Vertreibung und Tötung hunderter Jüdinnen und Juden wie etwa aus der Oase Khaybar wurden sie fortan als ein „feiges” und gedemütigtes Kollektiv betrachtet. Zwar durften sie auf islamischem Gebiet leben und ihre Religion ausüben, doch sie galten als Dhimmis – also „Schutzbefohlene“, die für ihre Sonderstellung eine zusätzliche Steuer zahlen und Diskriminierungen erdulden mussten. Auch wenn es im Koran auch pro-jüdische Aussagen gibt, dominieren jedoch Verse, in denen Juden als Feinde dargestellt, gar als „Schweine” abgewertet werden. Dieser degradierende Blick ist bis heute ein Kennzeichen muslimischer Judenfeindschaft geblieben. 14 So skandierten beispielsweise im Sommer 2014 junge Muslime bei pro-palästinensischen Demonstrationen in Berlin die Parole „Jude, Jude, feiges Schwein, komm‘ heraus und kämpf‘ allein”. Im Rahmen mehrere Proteste im Mai 2021 fiel die arabische Parole „Khaybar, Khaybar, ya yahud“ (dt.: „Juden, erinnert euch an Khaybar“).

2. Moderner Antisemitismus

Der moderne Antisemitismus beinhaltet die offene Abwertung und Diskriminierung von Jüdinnen und Juden auf der Basis negativer und seit Jahrtausenden tradierter Stereotype.

Verschiedene Bilder und Mythen der tradierten Judenfeindschaft verweben sich zu Stereotypen und Gerüchten, auf deren Grundlage Jüdinnen und Juden sozial und politisch diskriminiert werden, vertrieben oder sogar vernichtet werden (sollen). Grundlage dieser Diskriminierung ist nun nicht mehr die Religion, sondern die zugeschriebene Ethnie, aufgrund derer „den Juden“ diese klassischen negativen Eigenschaften als vererbbar zugeschrieben werden. „Den Juden“ wird unterstellt, dass sie die Weltherrschaft anstrebten. Einer antisemitischen Verfolgung können Jüdinnen und Juden nun auch durch Konversion zum Christentum nicht mehr entgehen. Dabei sehen sich die Antisemit*innen nicht als Täter*innen, sondern als Opfer „der Juden“. Diese hätten zu viel Macht und seien der Quell allen Übels und Probleme für nichtjüdischen Menschen in einer großen geheimen jüdischen Weltverschwörung. Nur durch Vernichtung dieser Verschwörung glaubt sich die*der Antisemit*in wehren zu können. Diese Ausprägung des Antisemitismus gipfelte in der Shoah, dem größten Massenmord in der Geschichte. Die Rassifizierung der Judenfeindschaft ist der entscheidende Unterschied zum Antijudaismus. Und auch heute haben die meisten Verschwörungserzählungen einen modern antisemitischen Kern.


„Die Deutschen werden uns Auschwitz nie verzeihen.“
Zvi Rix

3. Sekundärer Antisemitismus

Der sekundäre Antisemitismus wird auch oft als Antisemitismus „nicht trotz, sondern wegen Auschwitz“ bezeichnet.

Er ist eine für Deutschland spezifische Form des Antisemitismus. Die Geschichte der Shoah ist eine schmerzhafte Geschichte, mit der sich manche nichtjüdischen Menschen in Deutschland nicht auseinandersetzen möchten. Die aus der Shoah resultierende Verantwortung wird als eine aufgezwungene „Kollektivschuld“ empfunden und abgelehnt. Die unverarbeitete und unangenehme Schuldfrage setzt dem Bedürfnis nach einer ungebrochenen, positiven deutschen Identität eine prinzipielle Schranke. Darum wird nicht selten ein „Schlussstrich“ unter die Erinnerung an die Shoah und ihre Folgen gefordert. Diese Menschen empfinden Jüdinnen und Juden oft allein durch ihre Anwesenheit als eine Erinnerung an diese Geschichte. Das führt so weit, dass Jüdinnen und Juden bis heute vorgeworfen wird, ihren Opferstatus aus dem Dritten Reich auszunutzen, um sich Vorteile zu erschleichen. Häufig erfolgt dabei eine Verharmlosung oder gar Leugnung nationalsozialistischer Verbrechen bis hin zur Täter-Opfer-Umkehr. Oft wird ihnen vorgeworfen, die Erinnerung zu nutzen, um „die Deutschen“ kleinzuhalten, was das typisch antisemitische Muster der „jüdischen Macht“ gegenüber dem „ohnmächtigen Nichtjuden“ spiegelt.


„Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen. Wenn ich merke, daß sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf Motive hin abzuhören und bin fast froh, wenn ich glaube, entdecken zu können, daß öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung.“
Martin Walser, Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 15

4. Israelbezogener Antisemitismus

Mithilfe des israelbezogenen Antisemitismus werden Jüdinnen und Juden kollektiv für die Politik Israels verantwortlich gemacht.

Die Abneigung gegenüber Jüdinnen und Juden wird mit der Kritik an der israelischen Politik begründet. Indirekt werden Jüdinnen und Juden abgewertet und ausgegrenzt, und ihre Loyalität zu dem Land, in dem sie leben, in Zweifel gezogen. Die Unterstellung einer größeren Loyalität zu Israel bezeichnet man auch als antisemitische Separation. Der israelbezogene Antisemitismus spricht dem jüdischen Volk das Recht auf Selbstbestimmung ab und pauschalisiert die Kritik zum Beispiel an der israelischen Politik auf eine allgemeine Kritik am Staat Israel. Der problematische Begriff „Israelkritik“ spiegelt dieses Phänomen wider und auch den damit verbundenen Doppelstandard: Es gibt zum Beispiel keine vergleichbare Deutschland-, Russland- oder Irankritik. Auch der Staat Israel ist immer wieder Ziel antisemitischer Anfeindungen, beispielsweise, wenn er als jüdisches Kollektiv verstanden wird und das Judentum mit Israel gleichgesetzt wird. In der Thematisierung Israels und seiner Politik finden sich häufig antisemitische Erzählmuster aus den bereits beschriebenen Antisemitismusformen wieder. Beispielsweise setzt sich die antisemitische Ritualmordlegende in der heute auf Demonstrationen im Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts gerufenen Parole „Kindermörder Israel“ fort, als würde der Staat gezielt palästinensische Kinder angreifen und töten. Auch wenn es um die schlechte Wasserversorgung in den palästinensischen Gebieten geht, wird häufig an das Wissen um die mittelalterliche Verschwörungstheorie angeknüpft, dass „die Juden“ Brunnen vergiftet und damit die Pest herbeigeführt hätten. Auch sekundärer Antisemitismus kann hier zur Geltung kommen, etwa in Verschwörungserzählungen über die Gründung des jüdischen Staates und der damit verbundenen Relativierung der Shoah mit Versuchen, die Israelis als „neue Nazis“ darzustellen. In all diesen Punkten schwingt wieder mit, dass Jüdinnen und Juden den Antisemitismus selbst zu verantworten hätten. Häufig findet also eine Umwegkommunikation statt, indem der Antisemitismus sich nun statt auf „die Juden“ auf Israel oder „die Zionisten“ bezieht.

Kritik an Israels Politik von Antisemitismus unterscheiden

Natan Sharansky, Minister für soziale Fragen in Israel, entwickelte 2003 den sogenannten 3D-Test, um legitime Kritik an Israels Politik von Antisemitismus, der sich als solche tarnt, unterscheiden zu können: Israelbezogener Antisemitismus liegt laut ihm dann vor, wenn Israel Dämonisiert, Deligitimiert und/oder unter Anwendung von Doppelstandards bewertet wird. 16 Außerdem nannte er 2008 er zwei unerlässliche Kriterien für legitime Kritik an Israel: 1. Sie dürfe dessen Verfassung als jüdischer Staat nicht als Apartheid abwerten, 2. sie müsse das Existenzrecht Israels anerkennen. 17

Mehr dazu (in englischer Sprache) unter:
https://www.aish.com/print/?contentID=48892657§ion=/jw/s

Exkurs: Islamisierter Antisemitismus 18 oder Antisemitismus islamischer Prägung

Der heute auch in vielen überwiegend muslimisch geprägten Gesellschaften und auch bei in Europa lebenden muslimischen Migrant*innen anzutreffende Antisemitismus erweist sich zumeist als strukturell identisch mit dem modernen europäischen Antisemitismus. Der häufig als „importierte Antisemitismus“ bezeichnete Judenhass wurde tatsächlich importiert – allerdings von Europa nach außen. Die Flexibilität des Antisemitismus hat ihn auch an die Ideologien des Islamismus anpassungsfähig gemacht. Im Antisemitismus islamischer Prägung werden die negativen Judenbilder aus Christentum und Islam vereint. Wie im Kapitel Antijudaismus beschrieben, werden die muslimischen Überlieferungen von jüdischer Schwäche und Feigheit mit der paranoiden Vorstellung von „dem Juden“ als heimlichem Herrscher der Welt verbunden und somit das 7. mit dem 20. Jahrhundert verknüpft. 19 Dies lässt sich sowohl historisch als auch systematisch beweisen; die Verbreitung antijüdischer Ressentiments ging von Europa aus und breitete sich mit europäischer Expansion auch im Nahen Osten weiter aus. Der islamisierte Antisemitismus weist zumeist die gleichen Konstruktionsmerkmale auf wie der europäische moderne Antisemitismus, die mit islamischen Texten untermauert werden. Das Judenbild des muslimischen Antijudaismus unterscheidet sich grundlegend von dem des christlichen Antijudaismus: Weil Mohammed in der Lage war, die Jüdinnen und Juden von Medina zu vertreiben und Hunderte von ihnen zu töten, pflegten Musliminnen und Muslime auf „die Juden“ herabzublicken. 20 In der vormodernen islamischen Geschichte gab es darum keine tief verwurzelte Judenfeindschaft, die mit dem vormodernen christlichen Antijudaismus vergleichbar gewesen wäre. Entsprechend falsch ist die Idee, dass zwischen dem Judentum und Islam eine religiös begründete, fundamental unüberwindbare Feindschaft liegt. Heute wird der jüdische Staat immer wieder das Ziel muslimischer Anfeindungen. Durch die Imagination einer „Umma“, die Gemeinschaft aller Muslim*innen, wird eine Kollektivität geschaffen. Im islamisierten Antisemitismus gilt der Staat Israel als Unterdrücker und Besatzer der muslimischen Palästinenser*innen und im Sinne der „Umma“ damit als Unterdrücker aller Muslim*innen. Durch die Solidarisierung mit den palästinensischen Muslim*innen wird Identität geschaffen und zwar nicht nach Herkunft, sondern nach Religion.


Die Hamas ist eine Terrororganisation, die seit 2007 Gaza kontrolliert und sich dezidiert gegen Israel richtet. In ihrer Charta finden sich verschiedene Formen von Antisemitismus wieder:
Die Feinde haben alles, was sie bisher erreicht haben, durch langfristige, minutiöse Planung vorbereitet. Dabei machten sie sich Faktoren zu nutzen, die den Lauf der Dinge tatsächlich beeinflussen. Sie haben gewaltige materielle Reichtümer angehäuft, die ihnen Einfluss verschafften und die sie verwandten, um ihren Traum zu verwirklichen. Mit ihrem Vermögen brachten sie weltweit die Medien unter ihre Kontrolle, von Nachrichtenagenturen über die Presse und Verlage bis hin zu Rundfunkanstalten und anderem mehr. […] […] Sie erhielten die Balfour-Erklärung und gründeten den Völkerbund, um mittels dieser Organisation die Welt zu beherrschen. Und sie stecken auch hinter dem Zweiten Weltkrieg, in dessen Verlauf sie aus ihrem Handel mit Kriegsmaterial wiederum gewaltige Gewinne erwirtschafteten. Sie bereiteten den Weg für die Gründung ihres Staates und regten die Gründung der Vereinten Nationen und des Sicherheitsrates anstelle des Völkerbundes an, um so die Welt zu beherrschen.
Artikel 22 der Charta der HAMAS
Deutsche Übersetzung aus dem Englischen durch Audiatur Online (Annette Schmitz):
www.audiatur-online.ch/2011/die-charta-der-hamas/ , zuletzt geprüft am 02.07.2021.

Heutzutage befeuern u.a. Bewegungen wie PEGIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) antimuslimische Ressentiments in Deutschland. Muslim*innen hierzulande werden Ziele von antimuslimischen Rassismus. Immer wieder wird in der Diskussion um antimuslimische Diskriminierung der Vergleich von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus vorgenommen. Häufig heißt es sogar, „die Muslime seien die neuen Juden“. Dieser Vergleich wird aufgrund einer angenommenen strukturellen Ähnlichkeit oder sogar Gleichförmigkeit dieser beiden Diskriminierungsformen vorgenommen. Doch der Vergleich ist weder inhaltlich haltbar, noch ist eine solche Hierarchisierung von Diskriminierungsformen sinnvoll. Das spezifische Merkmal des Antisemitismus ist bei antimuslimischer Diskriminierung nicht gegeben; „den Muslimen“ wird keine „abstrakte Macht“ zugeschrieben, mit der sie hinter den Kulissen die Fäden zögen. 21 Die lange Tradition der Judenfeindschaft hat kein vergleichbares antimuslimisches Pendant und bezieht seine Wirkung nicht aus über lange Zeit tradiertem Wissen, sondern aus relativ modernen Vorurteilen und Ressentiments. Antimuslimischer Rassismus erklärt „den Islam“ ungeachtet seiner Vielfalt zu einem homogenen Feindbild und macht Menschen, die als muslimisch markiert oder gelesen werden, zu dessen Vertreter*innen. Der antimuslimische Rassismus ist „gerade deshalb als Rassismus einzustufen, weil Menschen entlang bestimmter Vorstellungen von Kultur, Religion und Herkunft essentialisiert werden, ihnen also nach (angeblicher) Abstammung genuin ‚islamische‘ Eigenschaften zugewiesen werden, die sie von der 'eigenen' Gruppe quasi natürlich unterschieden“. 22 Dabei findet häufig eine Abwertung statt. Beide Diskriminierungsformen stehen nebeneinander und nicht etwa in Konkurrenz zueinander. Durch Vergleiche dieser Art wird keiner der betroffenen Gruppen geholfen, sondern Verletzungen werden relativiert und in dieser Betrachtungsweise sogar „ersetzt“. Es muss möglich sein, über diese und weitere Diskriminierungsformen ohne Opferkonkurrenzen zu sprechen, Verletzungen ernst zu nehmen und anzuerkennen, ohne die der anderen zu bagatellisieren oder in Abrede zu stellen.

Quellen