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Antisemitismus

Antisemitismus zu verstehen und zu erkennen, ist eine wichtige Basis, um gegen Antisemitismus aktiv werden zu können.



Die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA, deutsch Internationale Allianz zum Holocaustgedenken) verabschiedete 2016 in Bukarest folgende Arbeitsdefinition:

"Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen." 1

Neben dieser Kurzfassung besteht die Arbeitsdefinition zudem aus einem kurzen, erläuternden Begleittext sowie einer Reihe von beispielhaften Aussagen, die verschiedene antisemitische Ausdrucksformen verdeutlichen. 2017 nahm das Bundeskabinett die Arbeitsdefinition von Antisemitismus der IHRA „in einer erweiterten Form zur Kenntnis“. Dabei ist der im Begleittext enthaltene Zusatz „Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten“ explizit in die Kurzdefinition der Bundesregierung aufgenommen worden, um der gegenwärtig immensen Verbreitung des israelbezogenen Antisemitismus Rechnung zu tragen.

Die Arbeitsdefinition der IHRA soll als eine Richtschnur bei antisemitischen Vorfällen und Straftaten, z.B. in Behörden oder Organisationen, in Bildung und Schule dienen. Sie ist allerdings nicht rechtsverbindlich.

Antisemitismus meint also die Ablehnung von bzw. den Hass auf und die verbale sowie körperliche Gewalt gegen Jüdinnen*Juden. 2 Der Begriff umfasst dabei viele verschiedene Formen der Judenfeindschaft. Eine häufige These ist, dass Antisemitismus allein ein religionsfeindliches Vorurteil darstelle. Dies basiert auf der falschen Annahme, dass das Judentum allein eine Religion sei (weitere Informationen finden Sie hier). Antisemitismus ist jedoch in seiner Form eine singuläre Weltanschauung, wobei dem antisemitischen Denken zugleich eine spezifische Funktion zukommt. Es basiert nicht auf realen Erfahrungen mit dem Judentum und seiner Geschichte, sondern auf verzerrten Vorstellungen über „die Juden“.


„Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden.“ 3
Theodor W. Adorno

Ein zentrales Motiv ist, dass „die Juden“ als eine mächtige Gruppe imaginiert werden, die verantwortlich für alles Schlechte in der Welt seien. „Die Juden“ sollen sich zur Erlangung der Weltherrschaft verschworen haben und gelten als Kollektiv, die im Dunkeln agiere oder im Hintergrund die Fäden zöge. Entscheidend für diese Vorstellung ist nicht nur ihre jüdische Religion, sondern auch eine ethnische Zuschreibung zum Judentum. Die Ideologie einer jüdischen Weltverschwörung ist sehr flexibel. Sie bietet ein (Welt-)Erklärungsmodell, das auf die verschiedensten Problemlagen anwendbar ist und im Laufe der Zeit unterschiedlich in Erscheinung getreten ist. Wie lässt sich die Langlebigkeit und die Anziehungskraft dieser Ideologie erklären?

Mit Beginn der Moderne bzw. in modernen Gesellschaften werden für eine erfolgreiche Bewältigung des Lebens zunehmend bestimmte Ansprüche an das Subjekt gestellt, die teils widersprüchlich oder unverständlich sind und deren Bewältigung scheitern kann: Gemeint ist der Umgang mit einer komplexen, nicht immer eindeutigen Welt, die den Menschen Erklärungen z.B. für Ungleichheits- oder Ausbeutungsverhältnisse abnötigt. Diese Zumutungen bzw. die Schuld an diesen Verhältnissen werden auf „die Juden“ zurückgeführt, um sie dort abwehren zu können. Diese vermeintliche Erklärung bietet den Individuen eine große Entlastung. Unterdrückte bzw. verdrängte Wünsche, Schuldgefühle und Unsicherheiten werden projektiv an den Jüdinnen*Juden bekämpft. 4 Der Antisemitismus bezieht seine Anziehungskraft dabei aus seiner hohen Anpassungsfähigkeit und der langen Kontinuität antisemitischer Bilder und Wissensbestände, die im gesellschaftlich-kulturellen Gedächtnis verankert sind – und die immer schon eine vermeintliche Erklärung für gesellschaftliche Missstände, vermeintliche „Schuldige“ oder auch Sündenböcke angeboten haben Dabei handelt es sich um tradierte Stereotypen und Phantasmen sowie um im kollektiven Bewusstsein verankerte Gefühle, die nicht nur als Bilder oder Erzählungen verbreitet werden, sondern ebenso über Andeutungen, die auf antisemitisches Vorwissen anspielen. 5

Der Begriff Antisemitismus

Der Begriff „Antisemitismus“ stammt aus dem 19. Jahrhundert und wird insbesondere auf den deutschen Journalisten Wilhelm Marr zurückgeführt. Marr war schon früh ein Vertreter des Anarchismus und politisch links verortet. 1879 gründete er die Antisemitenliga, eine der ersten judenfeindlichen Vereinigungen im Deutschen Kaiserreich und die erste, die das Schlagwort Antisemitismus zum politischen Programm erhob. Marr definierte Antisemitismus 1879/80 als eine angeblich neuartige, rassistisch motivierte Judenfeindschaft, die er ausdrücklich vom religiös begründeten Antijudaismus unterschieden wissen wollte. 6 Es war der Versuch einer Verwissenschaftlichung der Judenfeindlichkeit, da nach der Aufklärung die Bedeutung der Religion sank. Das kollektive Selbstbild in der europäischen Moderne orientierte sich also nicht mehr primär an der Identität als Christ*in, sondern wurde insbesondere national begründet. Verstärkt bezog man sich auf die Aufklärung und orientierte sich an Idealen der (Natur-)Wissenschaftlichkeit und Rationalität. 1871 wurde mit der deutschen Reichseinigung die viel diskutierte staatsbürgerliche Gleichstellung der Jüdinnen*Juden erlangt. Die etablierte Ablehnung der Jüdinnen*Juden aus religiösen Gründen konnte vor diesem Hintergrund nicht mehr aufrechterhalten werden. In der damaligen Sprachwissenschaft und Völkerkunde wurden historische Völker, die eine semitische Sprache sprachen und im Nahen Osten beheimatet waren als Semiten bezeichnet. Der pseudowissenschaftliche Begriff des Antisemitismus richtet sich aber dezidiert und ausdrücklich gegen Jüdinnen*Juden. „Insofern geht der heute oft zu hörende Einwand, es könne per definitionem keinen arabisch-islamischen Antisemitismus geben, da die Araber selbst Semiten seien, an der Sache vorbei, da mit Antisemitismus ausschließlich judenfeindliche Einstellungen und Handlungen gemeint sind.“ 7 Zur damaligen Zeit stand dieser Begriff eng im Zusammenhang mit dem Begriff der „Rasse“. Im Kontext dieses Diskurses wurden „die Juden“ als eigene „Rasse“ betrachtet und diese als minderwertig definiert. Zugleich wurden sie als „Volk, das kein Volk ist“ 8 diffamiert, das in der modernen Welteinteilung der Nationalvölker keinen Platz hätte. Dieses nationale Element sowie die Ethnisierung des Judenhasses waren neu und sind entscheidende Merkmale des modernen Antisemitismus seit dem 19. Jahrhundert.

Wichtig ist, dass der Antisemitismus keiner speziellen gesellschaftlichen Gruppe zugeordnet werden kann. Antisemitismus ist ein Kernelement rechtsextremer Ideologien, zugleich ist er sowohl in der politischen Linken als auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft verbreitet. Er ist außerdem unter Christ*innen, aber auch in muslimisch geprägten Milieus verankert. Immer wieder führen Historisierung und Tabuisierung von Antisemitismus dazu, dass er nicht als aktuelles Phänomen diagnostiziert und als gefährliches Problem bekämpft wird: Als historisch auf die Zeit des Nationalsozialismus begrenzte Erscheinung – so wird zumeist argumentiert – könne der Antisemitismus heute gar nicht mehr bestehen, da dieser doch vermeintlich vorbildlich aufgearbeitet und die Vergangenheit „bewältigt“ sei. Die alltäglichen Erfahrungen, die von Antisemitismus betroffene Jüdinnen*Juden in Deutschland machen, beweisen jedoch seine Relevanz in der Gegenwart. Erst seit 2016 werden die in Deutschland lebende Jüdinnen*Juden überhaupt zu ihrer Perspektive auf Antisemitismus befragt: Dabei geben 41% der Befragten an, in den letzten zwölf Monaten von antisemitischer Belästigung betroffen gewesen zu sein. In einer weiteren Studie gibt die überwiegende Mehrheit, nämlich 70% der Befragten, an, darauf zu verzichten, sich aufgrund erwarteter Gefahren als jüdisch erkennbar zu zeigen und 58% der Befragten vermeiden aus Sicherheitsgründen bestimmte Orte bzw. Stadtteile. 9 In Schulen geben sich jüdische Schüler*innen oft nicht zu erkennen oder sind zum Teil massiven antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt. 10

Rassismus und Antisemitismus: Eine wichtige Unterscheidung.

Antisemitismus wird häufig in einem Atemzug mit bzw. als eine spezifische Form von Rassismus genannt. Tatsächlich bestehen einige Gemeinsamkeiten, aber auch entscheidende Unterschiede zwischen Antisemitismus und Rassismus. Die häufig vertretene Ansicht, dass Antisemitismus eine Form von Rassismus, also eine Art antijüdischer Rassismus sei, verkennt, dass sowohl die Funktionsweise als auch die zugrundeliegenden Denkmuster hinter den beiden Konzepten verschieden und teilweise gegensätzliche sind. Trotz aller Unterschiede kann empirisch gezeigt werden, dass antisemitische und rassistische Haltungen häufig von den gleichen Personen eingenommen werden und als sich ergänzende Ausdrücke politischer Gesinnung fungieren können.

Die Besonderheit des Antisemitismus liegt darin, dass Antisemit*innen „den Juden“ bestimmte Eigenschaften zuschreiben, die anderen Gruppen nicht zugeschrieben werden würden. Zwar gelten „die Juden“ als „minderwertig“. Aber sie werden darüber hinaus zugleich als mächtig, intelligent und besonders reich dargestellt. Hinzu kommt das für den Antisemitismus typische Element des Verschwörungsdenkens 11 : „Den Juden“ als vermeintlichen Drahtziehern werden alle gesellschaftlichen Übel und Verwerfungen angelastet, unter denen das jeweils spezifische „Wir“ zu leiden hätte. Antisemitismus ist damit ein Welterklärungsmodell, mit dem Antisemit*innen als bedrohlich wahrgenommene gesellschaftliche Zustände glauben verstehen zu können. „Die Juden“ seien eine abstrakte Macht im Weltgefüge, sie zögen im Hintergrund die Fäden und benützten andere zu ihrem eigenen Vorteil. Diese fixe Idee einer „jüdischen Weltverschwörung“ ist einzigartig: Über keine andere ethnisch oder religiös konstruierte Gruppe existieren vergleichbare Vorstellungen. 12 Der kanadische Historiker Moishe Postone stellt fest, dass so lange, „wie der Antisemitismus als bloßes Beispiel für Vorurteile, Fremdenhass und Rassismus allgemein behandelt wird, als Beispiel für Sündenbock-Strategien, deren Opfer auch sehr gut Mitglieder irgendeiner anderen Gruppe hätten gewesen sein können“ 13 , der moderne Antisemitismus mit dem Höhepunkt der industriell durchgeführten Massenvernichtung der Jüdinnen*Juden unerklärlich bleiben muss. Auch spezifische Formen von Antisemitismus wie israelbezogener und sekundärer Antisemitismus variieren und kodieren diese Vorstellungen.

Der Rassismus funktioniert anders: Die von Rassismus betroffenen Personen werden beispielsweise mit Primitivität verbunden, mit Aggression und Sexualität. Auch richtet sich der Rassismus nicht nur gegen Personen, sondern auch gegen ganze Völker oder einen ganzen Kontinent. Aus dieser herabsetzenden Anschauung resultiert die Rechtfertigung der Ausbeutung; die*der Rassist*in erklärt sich für höherwertig. Beim Rassismus wird eine etwaige zugeschriebene Macht, sei es in Form der Arbeitskraft oder der sexuellen Potenz, durch Rückgriff auf das Biologische formuliert. Beim Antisemitismus bleibt die Macht hingegen unkonkret und abstrakt. Während beim Rassismus also der Gedanke der Abwertung oder Minderwertigkeit im Vordergrund steht, wird im Antisemitismus „der Jude“ als übermächtig imaginiert.

Gemeinsam ist diesen Diskriminierungsformen, dass sie nicht erst mit Hass beginnen, sondern schon mit negativ behafteten Kategorisierungen, Pauschalisierungen, Stereotypen, Vorurteilen und bestimmten Weltanschauungen, Skepsis und Vorsicht, emotionaler Abneigung, einer unterschwelligen Abwertung und einer unreflektierten Nutzung alltagssprachlicher Schmähungen.14 Die mit Gewalt durchgesetzte Stigmatisierung als „minderwertige Rasse“ trifft die Betroffenen in ihrem Menschsein. Doch die Konsequenzen aus diesen Ansichten unterscheiden sich: Da „der Jude“ für alles Böse und Schlechte steht, ist für ihn überhaupt kein Platz in der Gesellschaft. Antisemitismus zielt ideologisch auf die Vernichtung aller Jüdinnen*Juden ab, die unterschwellige Botschaft in jeder Form des Antisemitismus ist, dass „die Welt ohne Juden schöner wäre“.15 Der Rassismus dagegen strebt eine von rechts so genannte „ethnopluralistische“ Aufteilung der Welt an, die nach seinen Vorstellungen kategorisiert und geordnet sein soll.16 Für „die Juden“ ist in der antisemitischen Weltordnung dagegen kein Platz.17 Die Terroranschläge von Halle im Jahr 2019 und Hanau im Februar 2020 haben gezeigt, dass Antisemitismus und Rassismus tödliche Gefahren sind, die von denselben Personen ausgehen.

Dazu kommt die jahrtausendealte Tradition des Judenhasses, die bis in die Antike zurückreicht. Die Fixierung auf die antisemitischen Projektionen über „die Juden“ und das vermeintlich „Jüdische“ ist eine eigenständige Dimension des Antisemitismus. Der Rassismus hingegen ist eine Ideologie, die vorrangig auf Unterwerfung, Ausbeutung oder Vertreibung abzielt. Auch Rassismus kann auf Vernichtung abzielen, allerdings nicht in dem Sinn, dass eine Gruppe konstruiert wird, die als existenzielle Bedrohung definiert und deren Vernichtung als Voraussetzung des eigenen Überlebens imaginiert wird. Daher ist die Shoah kein Ergebnis von „reinem“ Rassismus, sondern von Antisemitismus.

In der Forschung gibt es sehr viele verschiedene Unterscheidungen antisemitischer Spielarten, die sich jedoch überlappen oder ineinander übergehen können. Gleichzeitig stellt Antisemitismus ein gesamtgesellschaftliches Problem dar, welches milieu- und gruppenübergreifend anzutreffen ist. Als vermeintliches „Wissen“ können antisemitische Bilder oder Vorstellungen von verschiedensten Träger*innen aufgegriffen und verbreitet werden. „Antisemitismus“ hat sich als der Oberbegriff für viele Formen der Judenfeindschaft durchgesetzt und wird durch weitere Beifügungen spezifiziert. Wir thematisieren an dieser Stelle fünf Erscheinungsformen:

1. Antijudaismus

Der Antijudaismus ist die religiös motivierte Feindschaft gegenüber Jüdinnen*Juden.

Der Begriff bezeichnet vorrangig die Gesamtheit antijüdischer Anschauungen und Verhaltensweisen im Christentum und ist Bestandteil der Kirchengeschichte seit ihren Anfängen. Der Antijudaismus geht aus der Trennung des Christentums vom Judentum hervor und fällt in die Zeit des Aufstiegs des Christentums zur Staatsreligion des Römischen Reiches. Christ*innen warfen „den Juden“ vor, den Bund mit G‘tt gebrochen und seinen Sohn, den von ihnen nicht anerkannten Messias Jesus von Nazareth, getötet zu haben, statt dies den eigentlichen Verantwortlichen, den Römern, anzulasten. An die Stelle des Judentums trete nun das Christentum, während die gemeinsamen Ursprünge verdrängt wurden. Vielfach wird die Vorstellung „der Juden“ als Christusmörder tradiert und als eine Kollektivschuld auf alle Jüdinnen*Juden angewendet. So entwickelte sich im Hochmittelalter u.a. der Mythos der Ritualmorde an christlichen Kindern, wonach Jüdinnen*Juden diese heimlich entführen und ermorden würden, um deren Blut für religiöse Feste oder medizinische Zwecke zu benutzen. Die Vorstellungen über die Schlechtigkeit und Schädlichkeit der Juden führten auch immer wieder zu individueller und kollektiver Gewalt gegen und Vertreibungen von Jüdinnen* Juden, insbesondere während des ersten Kreuzzuges (Ende des 11. Jahrhunderts) und der Pestwelle Mitte des 14. Jahrhunderts.

Die im Antijudaismus entstandenen Bilder existieren seit dem Mittelalter bis in die Neuzeit und haben ihre Wirkung bis heute nicht verloren: Narrative über Jüdinnen*Juden als Verkörperung des Bösen, als Verantwortliche für Ritualmord, Gottesmord, Hostienfrevel und Brunnenvergiftung existieren weiterhin und werden auch in anderen Kontexten aufgegriffen – wie zum Beispiel der Parole „Kindermörder Israel“ auf anti-israelischen Demonstrationen. Der Antijudaismus gilt als historische Voraussetzung des modernen Antisemitismus.


„Weil ihr Christus getötet habt, weil ihr gegen den Herrn die Hand erhoben habt, weil ihr sein kostbares Blut vergossen habt, deshalb gibt es für euch keine Besserung mehr, keine Verzeihung und auch keine Entschuldigung."
Johannes Chrysostomos in seiner Predigt „Adversus Iudaeos“ um 390 n.d.Z.

Das Judenbild des islamischen Antijudaismus aus dem 7. und 8. Jahrhundert unterscheidet sich wiederum von dem des christlichen Antijudaismus. Im Koran ist die Mehrheit der Verse, die sich auf Jüdinnen*Juden beziehen, negativ konnotiert und sie werden oft als Feinde oder Affen und Schweine bezeichnet. Auch weil Mohammed in der Lage war, die Jüdinnen*Juden aus Medina zu vertreiben und Hunderte von ihnen zu töten, pflegten Muslim*innen auf „die Juden“ herabzublicken. 18 Daraus folgte, dass Jüdinnen*Juden in islamischen Ländern, ähnlich wie Christ*innen, als Dhimmis galten, also Schutzbefohlene, die einerseits vor Mord und Verfolgung geschützt waren, andererseits Sondersteuern zahlen sowie vielen Einschränkungen und Diskriminierung erdulden mussten. 19 Auch die besondere Kennzeichnung der Kleidung von Jüdinnen*Juden wurde erstmals im April 850 per Dekret mit dem Zwang, eine honigfarbene Kopfbedeckung und einen spezifischen Gürtel zu tragen, erlassen. 20 Trotz dieser vielen Einschränkungen gab es allerdings in der vormodernen islamischen Geschichte keine tief verwurzelte Judenfeindschaft, die mit dem vormodernen christlichen Antijudaismus vergleichbar gewesen wäre. Auch wechselten sich Zeiten der Unterdrückung mit Zeiten friedlichen Zusammenlebens, wie zeitweise in Al-Andalus, ab.

2. Moderner Antisemitismus

Im modernen Antisemitismus wird, etwa im Rahmen von Verschwörungsmythen, Jüdinnen*Juden eine besondere politische oder ökonomische Macht zugeschrieben, die nicht mehr religiös, sondern pseudowissenschaftlich begründet wird. Er gipfelt im nationalsozialistischen Vernichtungsantisemitismus und wirkt bis in die Gegenwart fort.

Er entsteht im Rahmen der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche in Europa des 19. Jahrhunderts als Ideologie, die Jüdinnen*Juden einerseits als unterlegene und sozialdarwinistisch „rassisch minderwertige“ Andere, andererseits als Personifikation von Überlegenheit und Allmacht dämonisiert. Beispielsweise wird Ihnen eine wirtschaftliche oder politische Omnipotenz zugeschrieben. Die Komplexität moderner Gesellschaften wird auf ein einfaches Schema reduziert: Demzufolge zögen „die mächtigen Juden“ heimlich die Fäden und kontrollierten etwa die Wirtschaft oder politische Institutionen. Grundlage der Judenfeindschaft ist nun nicht mehr die christliche Religion, sondern sie speist sich aus der Idee einer rassisch begründeten Verschiedenheit. „Die Juden“ werden einer national oder völkisch fundierten Gesellschaft gegenübergestellt. „Die Juden“ werden als „Feinde der Menschheit“ und als „Kriegstreiber“ konstruiert, welche den „Weltfrieden“ gefährden. 21 Im Zuge des Aufkommens rassistischer Diskurse im 19. Jahrhundert wurde das Andersartig-Sein von Jüdinnen*Juden aufgrund rassistischer Vorstellungen wissenschaftlich gerechtfertigt. Eine Biologisierung des Antijudaismus fand statt, antijudaistische Bilder und Legenden wurden säkularisiert. Als Angehörige der „semitischen Rasse“ wurde ihre Andersartigkeit aufgrund der Genetik festgesetzt. Spätestens seit dem Berliner Antisemitismusstreit von 1879 war Judenfeindschaft ein zentrales Thema der politischen Debatte im Kaiserreich. Neben Wilhelm Marrs „Antisemitenliga“ gründeten sich zahlreiche Organisationen und Parteien. Zwar war dieser Antisemitismus politisch, etwa in Form von Wahlergebnissen, nicht sehr erfolgreich – die genannten Organisationen waren häufig eher kurzlebig und zerstritten. Dennoch wurde Antisemitismus zu einem „kulturellen Code“ (Shulamit Volkov) und prägte die kollektive Identität insbesondere konservativer, reaktionärer und völkischer Milieus grundlegend. Der Rassenantisemitismus wurde in den 1920er Jahren zum Instrument der NSDAP und letztlich durch deren Machtübernahme ab 1933 zur offiziellen Politik eines modernen Staates. Die Nationalsozialisten nutzten den Antisemitismus als Modell zur Welterklärung. Das Verhältnis zwischen „Gut“ und „Böse“ sahen Anhänger*innen dieser Erscheinungsform des Antisemitismus als fundamentale Auseinandersetzung zwischen Rassen: Diese sollte durch die Vernichtung der Jüdinnen*Juden und des Judentums entschieden werden. Dabei wurde die deutsche „Volksgemeinschaft“ einerseits aufgrund ihrer Rasse als überlegen angesehen, andererseits sah man ihre Existenz durch den Wahn von einer Allmacht der Jüdinnen*Juden bedroht. Somit konnte eine Täter-Opfer-Umkehr vollzogen werden, die „den Juden“ die Schuld an der eigenen Verfolgung gab. Dem nationalsozialistischen Vernichtungsantisemitismus fielen in der Shoa mehr als sechs Millionen jüdische Menschen zum Opfer.


Ein Jude begegnet auf der Terrasse eines Cafés einem seiner Freunde, der gerade den „Stürmer“ liest, eine stark antisemitische Tageszeitung. „Wie kannst du so etwas Grauenhaftes lesen?“, sagt er zu ihm. Sein Freund erwidert: „Wenn ich eine jüdische Zeitung lese, finde ich nur traurige Nachrichten und Katastrophen. Überall Antisemitismus, Verfolgungen; Türen, die sich vor den Juden schließen, die ihr Land verlassen wollen. In dieser Zeitung dagegen erfahre ich, dass wir die Welt beherrschen, dass die Banken, die Finanzwelt und die Presse in unserer Hand sind. Das ist weitaus erfreulicher!“
Jüdischer Witz, entnommen aus: Joseph Klatzmann (2011): Jüdischer Witz und Humor, S. 44.

3. Post-Shoa-Antisemitismus

Der Post-Shoa-Antisemitismus zeichnet sich durch eine Abwehrhaltung aus, in der vor allem eine Auseinandersetzung mit der schuldbelasteten Vergangenheit der nationalsozialistischen Judenverfolgung abgelehnt wird.

Antisemitische Einstellungen und Bilder werden seit 1945 oftmals nicht mehr offen, sondern auf Umwegen, über Vergleiche oder in Codes kommuniziert. Der Post-Shoa-Antisemitismus (auch als sekundärer Antisemitismus bezeichnet) ist eine dieser subtilen Ausdrucksweisen, die nach der Shoa insbesondere in Deutschland 22 und Österreich entstand und als Versuch der Erinnerungs- und Verantwortungsabwehr angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus dekonstruiert werden muss. Dabei wird die Erinnerung an die Shoa negativ betrachtet: Wer sich nach nationaler Identität und Normalität sehnt, fühlt sich durch die Erinnerung in der deutschen Identitätsfindung gestört. Die Schuld dafür wird bei den Jüdinnen*Juden selbst verortet. 23 Post-Shoa-Antisemitismus zeigt sich deshalb in der Relativierung und Leugnung der Shoa sowie der Forderung nach einem Schlussstrich in der Auseinandersetzung. Deutlichstes Merkmal des Post-Shoa-Antisemitismus ist die Täter-Opfer-Umkehr. So wird Jüdinnen*Juden die Mitschuld an ihrer Verfolgung angelastet oder behauptet, sie würden die Shoa für den eigenen finanziellen und politischen Profit instrumentalisieren. Zwei Umfragen illustrieren die zeitliche Kontinuität dieser Ressentiments: 1952 lehnten etwa die Hälfte der Deutschen sogenannte Wiedergutmachungszahlungen an Israel ab, 24% hielten diese zwar für gut, aber zu hoch, und nur 11% stimmten ihnen zu. 24 Ende 2019 ergab eine Studie des Jüdischen Weltkongresses, dass 41% der Deutschen der Auffassung sind, dass Jüdinnen*Juden zu häufig über die Shoa redeten. 25 Hinzu kommt der Versuch, die Unschuld der Familienangehörigen durch eine Relativierung der Täterschaft zu konstruieren. Dies führt zu Umdeutungen des Nationalsozialismus als etwas, „unter dem die Deutschen gelitten haben“ oder in dem „die Deutschen keine Wahl gehabt“ hätten. 26 Zur Verdeutlichung der Absurdität und Irrationalität dieser Facette kann man zum Phänomen Post-Shoa-Antisemitismus folgende Quintessenz formulieren: Hass auf Jüdinnen*Juden nicht trotz, sondern wegen Auschwitz.


„Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; […] wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. […] Wenn ich merke, daß sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf Motive hin abzuhören und bin fast froh, wenn ich glaube, entdecken zu können, daß öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung.“27
Martin Walser, Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels

4. Israelbezogener Antisemitismus

Der israelbezogene Antisemitismus ist die dominante Manifestation des Judenhasses im 21. Jahrhundert. Er zeichnet sich dadurch aus, dass Kritik an der Politik des Staates Israel mit antisemitischen Ressentiments verknüpft wird.

Der Antisemitismus richtet sich gegen den Staat Israel, etwa indem diesem die Legitimität abgesprochen wird oder er auf dämonisierende Weise dargestellt wird. Antisemitische Stereotypen werden auf Israel übertragen: Das Agieren des israelischen Staates gilt als Beweis für die Bösartigkeit und den schlechten Charakter aller Jüdinnen*Juden. Damit einher geht eine generelle Ablehnung von Jüdinnen*Juden, die durch die israelische Politik legitimiert wird. Der Staat wird als jüdisches Kollektiv verstanden und Jüdinnen*Juden, gleich welcher Herkunft oder politischer Überzeugung, pauschal zu Repräsentant*innen Israels gemacht und als solche angefeindet, bedroht oder getötet.28

Seit seiner Gründung im Mai 1948 sehen sich der Staat und seine Bewohner*innen „Vernichtungsabsichten ausgesetzt, die sich an Kriegen und Terroranschlägen zeigen“29 – und deren Geschichte sich bis in die Zeit vor der Staatsgründung zurückverfolgen lässt. Anstatt diese Gewaltakte klar als antisemitisch zu benennen, werden „antisemitische Dämonisierungen gemeinhin als ‚Israelkritik’ bagatellisiert […] und normalisiert“30 .

In der Thematisierung Israels und seiner Politik finden sich häufig antisemitische Erzählmuster aus den bereits beschriebenen Antisemitismusformen wieder. Beispielsweise setzt sich die antijudaistische Ritualmordlegende in der heute auf Demonstrationen im Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts gerufenen Parole „Kindermörder Israel“ fort. Auch Post-Shoa-Antisemitismus kann hier zur Geltung kommen, etwa in Verschwörungserzählungen über die Gründung des jüdischen Staates und in Kritik, die mit Vergleichen und Assoziationen zum Nationalsozialismus operiert, indem sie beispielsweise die Situation der Palästinenser*innen mit der Verfolgung von Jüdinnen*Juden in der Zeit des Nationalsozialismus gleichsetzt. In all diesen Punkten schwingt mit, dass Jüdinnen*Juden den Antisemitismus selbst zu verantworten hätten. Häufig findet auf diese Weiseeine Umwegkommunikation statt, indem der Antisemitismus sich nun statt auf „die Juden“ auf Israel oder „die Zionisten“ bezieht.

Israel ist eine demokratische, liberale und offene Gesellschaft, in der unterschiedliche Meinungen miteinander im Austausch stehen und (selbst-)kritische Positionen selbstverständlich erlaubt sind. Um eine antisemitische von einer nicht-antisemitischen Kritik an der israelischen Politik unterscheiden zu können, bedarf es einer Analyse der inhaltlichen Grundlagen der jeweiligen Kritik: Liegt der Kritik eine besonders hohe Erwartung zugrunde, weil vom Staat Israel das Eintreten für die seinem Status als Demokratie und Rechtsstaat entsprechenden Vorstellungen und Werte vorausgesetzt wird? Oder erfolgt die Beurteilung allein deswegen, weil sich auf diese Weise eine latent antisemitische Einstellung scheinbar gefahrlos und gut getarnt formulieren lässt? Hilfreich bei der Differenzierung zwischen legitimer Kritik an der Politik des Staates Israel und israelbezogenem Antisemitismus ist der von Natan Sharansky konzipierte 3-D-Test: Liegt eine Dämonisierung Israels vor, weil die Politik des Staates Israel mit dem Agieren des nationalsozialistischen Staates verglichen wird und israelische Politiker als blutrünstig dargestellt werden? Findet eine Delegitimation Israels statt, weil das Existenzrecht infrage gestellt wird? Erfolgt die Bewertung der Handlungen Israels anhand doppelter Standards, weil andere Länder mit anderen Maßstäben bewertet werden?


„Die stärkste Waffe des neuen Antisemitismus ist bestechend in ihrer Einfachheit. Sie sieht so aus: Der Holocaust darf nie wieder passieren. Aber Israelis sind die neuen Nazis, Palästinenser die neuen Juden und alle Juden sind Zionisten. Daher sind die wirklichen Antisemiten unserer Zeit niemand anderes als die Juden selbst.“
Jonathan Sacks31

5. Islamischer Antisemitismus

Im islamischen Antisemitismus, insbesondere (aber nicht ausschließlich) innerhalb islamistischer und djihadistischer Strömungen, werden im Verlauf der Geschichte die negativen, antijudaistischen Zuschreibungen aus dem Koran und der islamischen Überlieferung mit modernen antisemitischen Narrativen und Verschwörungserzählungen verwoben. Es handelt sich dabei nicht allein um ein religiös-theologisches Phänomen, sondern dient der Legitimation weltlich-politischer Herrschaft bzw. einer bestimmten Vorstellung des Zusammenlebens. Zentral ist hierbei die Behauptung der Existenz eigenen (kollektiven) Identität gegen „das Jüdische“: „Wahrheit und rechte Ordnung drücken sich in Opposition zu den Juden aus. […] Ebenso wie der Koran die hebräischen Stammväter einer islamischen Prophezeiung ‚einverleibte‘, versuchte die Tradition, die Juden einem islamischen Gemeinwesen einzuverleiben.“32

Antisemitische Weltbilder übernehmen somit auch in mehrheitlich islamischen Gesellschaften wichtige soziale und psychische Funktionen. Einflüsse gingen zudem von Europa aus und verbreiteten sich mit der europäischen Expansion auch im Nahen Osten, wie am Beispiel der sog. „Damaskus-Affäre“ gezeigt werden kann: 1840 beschuldigten Mönche und der französische Konsul jüdische Menschen aus Damaskus, einen Ordensbruder samt Begleitung aus rituellen Gründen ermordet zu haben, was zu Ausschreitungen sunnitischer Muslime führte. Diese Ritualmordlegende sowie weitere antisemitische Narrative verbreiteten sich durch Hetzkampagnen in den Folgejahren durch das gesamte osmanische Reich. In den 1920er Jahren verbreitete der Mufti von Jerusalem, Amin El-Husseini ein Gerücht, demzufolge Jüdinnen*Juden beabsichtigten, die Al-Aqsa-Moschee zu zerstören.33 1929 kamen gefälschte Fotos eines Brandanschlags auf die Moschee hinzu, was u.a. zum Massaker von Hebron führte, bei dem 67 Jüdinnen*Juden umgebracht wurden.

Eine Verbreitung des Antisemitismus in islamisch geprägten Gesellschaften erfolgte insbesondere in den 1930er Jahren durch die gezielte Propaganda des NS-Regimes und deren Verbreitung durch lokale Akteure. Die Übersetzungen antisemitischer Schriften ins arabische und die massive Verbreitung des Pamphlets „Islam – Judentum. Aufruf des Großmuftis an die islamische Welt im Jahre 1937“ von Amin El-Husseini, das antijudaistische Verse des Korans mit europäischen antisemitischen Weltverschwörungsideologien vermischte, konnten dabei an vorhandene Denkmuster und verbreitete Vorstellungen andocken. Ab 1939 sendete Radio Zeesen, ein Auslandssender des Dritten Reiches, jeden Abend Programm auf Arabisch und weiteren Sprachen, das aus antisemitischer Propaganda, begleitet von Koranrezitationen und arabischer Musik bestand: „[Dies] beförderte eine (ausschließlich) antijüdische Lesart des Koran, popularisierte die europäischen Verschwörungsmythen und prägte eine genozidale Rhetorik gegenüber Israel“.34

Diese Propaganda wirkt bis heute sowohl in islamisch geprägten Gesellschaften als auch bei in Europa lebenden Muslimen nach und wird zunehmend auf den Staat Israel übertragen – wobei Massenmedien und social media eine entscheidende Rolle spielen. Die ideologische Ansprechbarkeit ist dabei „nicht ausschließlich [auf] radikale, fundamentalistische und djihadistische Ausprägungen des Islam“ beschränkt.35 Gleichzeitig sind Zeichen der Annäherung erkennbar: So zeigt beispielsweise die Abraham-Accord-Declaration36 aus dem Jahr 2020, dass Teile der sog. arabischen Welt bereit sind, historisch gewachsene Positionen zu hinterfragen und sowohl Israel als auch Jüdinnen*Juden weltweit als gleichwertig anzuerkennen. Gerade im Nachgang der Massaker vom 7. Oktober 2023 zeigt sich jedoch die Brüchigkeit dieser Entwicklungen, die angesichts des global um sich greifenden Antisemitismus in den Hintergrund treten.


„Der erbitterte Krieg, den die Juden gegen den Islam angezettelt haben …,
ist ein Krieg, der in beinahe vierzehn Jahrhunderten nicht für einen einzigen Moment unterbrochen worden ist.“
Sayyid Qutb37

Exkurs: „Muslime sind die neuen Juden“? Zum Verhältnis von Antisemitismus und antimuslimischen Ressentiments

Heutzutage befeuern u.a. Parteien wie die Alternative für Deutschland (AfD) antimuslimische Ressentiments in Deutschland. Muslim*innen hierzulande werden Ziele von Rassismus und Muslimfeindlichkeit. Immer wieder wird in der Diskussion um antimuslimische Diskriminierung eine Gleichsetzung von Antisemitismus und Rassismus bzw. Muslimfeindlichkeit vorgenommen.38 Teilweise heißt es, „die Muslime seien die neuen Juden“. Diese Parallelisierung erfolgt aufgrund einer angenommenen strukturellen Ähnlichkeit oder sogar Gleichförmigkeit beider Diskriminierungsformen. Doch ist eine Gleichsetzung weder inhaltlich haltbar, noch ist eine implizite oder explizite Hierarchisierung von Diskriminierungsformen angemessen oder sinnvoll. Zwar soll diese überspitzte Aussage den Fokus auf die Abwertung von Muslim*innen legen, allerdings stellt sich hier die Frage, wieso es dazu den Referenzrahmen der Shoa braucht. Einige spezifische Merkmale des Antisemitismus sind bei antimuslimischer Diskriminierung nicht gegeben; „den Muslimen“ wird zum Beispiel nicht zugeschrieben, hinter den Kulissen eine die Gesellschaft „zersetzende“ Macht auszuüben.39 Die lange Tradition der Judenfeindschaft hat kein antimuslimisches Pendant. Muslimfeindlichkeit besitzt eine eigene Struktur und erklärt etwa „den Islam“ ungeachtet seiner Vielfalt zu einem homogenen Feindbild und macht Menschen, die als muslimisch markiert oder gelesen werden, zu dessen Vertreter*innen. Dabei findet häufig eine Abwertung statt. Antimuslimische Ressentiments und Antisemitismus stehen nebeneinander und nicht etwa in Konkurrenz zueinander. Durch Gleichsetzungen dieser Art wird keiner der betroffenen Gruppen geholfen, da vielmehr Verletzungen relativiert und in dieser Betrachtungsweise sogar „ersetzt“ werden (können). Es muss möglich sein, über diese und weitere Diskriminierungsformen ohne Opferkonkurrenzen zu sprechen, Verletzungen ernst zu nehmen und anzuerkennen, ohne die der anderen zu bagatellisieren, zu verdecken oder in Abrede zu stellen.

Quellen

  • Abdel-Hakim, Ourghi (2023): Die Juden im Koran. Ein Zerrbild mit fatalen Folgen. München.
  • Adorno, Theodor W. (1951): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Berlin und Frankfurt am Main.
  • Becker, Ulrike (2020): Islamischer Antisemitismus. In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hg.): Wissen schafft Demokratie, Schwerpunkt Antisemitismus, Band 8. Jena, S. 74-85.
  • Bergmann, Werner (2006): Was heißt Antisemitismus? Online verfügbar unter: https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/37945/antisemitismus, zuletzt geprüft am 27.05.2024.
  • Bernstein, Julia (2020): Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Befunde – Analysen – Handlungsoptionen. Weinheim und Basel.
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